Dienstag, 7. Januar 2014

Jahr eins nach Dir

Jahr eins nach Dir.

Kapitel 1.
Die Nacht war schon immer meine liebste Zeit. Doch hätte ich nie zu träumen gewagt, dass ich einmal in einer kalten, klaren Sommernacht auf einer weiten Weide stehen und in den Himmel blicken würde. Jeder Stern, so ein Wunder für sich. Ich mochte Sterne seit meiner Kindheit. Sie hatten etwas magisches, zogen mich an. Nun bist du ein Stern. Mein Stern.

Ich hatte das Bild im April gemacht- also, bevor alles passiert war- und betrachtete es nachdenklich. Wie stark ich aussah. Hohe Wangenknochen, braune, große Augen, und meine langen Wimpern, die ich besonders mochte.  Ich lachte. Einen Zustand, den ich nun, fast ein Jahr, nachdem es passiert ist, kaum noch wahrnehmen konnte. Ich legte das Bild zur Seite, unter mein Kopfkissen, dorthin, wo es seit einem Jahr lag. Es hatte sich so viel verändert. Vor allem ICH hatte mich verändert. Ich bin anders geworden. Vorsichtiger. Ich erinnere mich genau an Alles. Es spielt sich immer wieder in meinem inneren Auge ab. Das Bild, welches ich gerade zur Seite gelegt hatte, zeigte mich und meine Schwester. Wir bestritten ein Spring- Turnier, Reiten. Wir waren mittendrin. Und wir wirkten beide glücklich, Jede auf eine andere Weise. Wir waren so verschieden, dass wir uns schon manchmal fremd wurden. Ich hatte eine ältere Schwester, Tessa. Sie war sehr still, wenn sie mal etwas sagte, schenkten ihr Alle Aufmerksamkeit und was sie sagte, behielt mal in Erinnerung. Sie war immer der still vor sich hin leidende Typ gewesen. Ich habe sie so manche Male in ihrem Zimmer weinen gehört, doch sagte sie nie etwas darüber. Sie schwieg, bis man meinte, die ganze Welt schweige. Sie war 21, arbeitete als Köchin in einem Restaurant am anderen Ende der Stadt. Nach außen hin wirkte unsere Familie perfekt. Doch der Schein trübte- wie so oft es der Fall war. Und dann war ich ja noch da, Louise, die Unscheinbare, Liebe. Genau genommen war ich 16, also so jung auch nicht. Ich war weder aufdringlich und laut noch verschwiegen und nachdenklich. Ich war halt immer ich. Manchmal so, manchmal eben anders. Ich versuchte einfach niemandem im Weg zu stehen, nahm Rücksicht wo ich nur konnte. Wir waren wir, doch Keine glich der Anderen. Wir waren einfach wir.
Ich machte mich auf den Weg zur Schule, es war die zweite Woche nach den Osterferien. Montage mochte ich nie, sie waren eben der Beginn einer Schulwoche. Ich traf mich nicht mehr- wie ich es vergangenes Jahr, und die Jahre davor getan hatte- mit meiner ehemals besten Freundin Mandy vor Schulbeginn. Also ging ich allein über den Schulhof, erreicht den Haupteingang. Mandy und ich waren Jahre lang beste Freundinnen gewesen, waren durch dick und dünn gegangen, hatten uns alles erzählt und immer zusammengehalten. Doch seit jenem Tag im April hatten wir uns auseinander gelebt. Ich war anders geworden und sie auch. Ich setzte mich auf meinen Platz und lies die ersten zwei Stunden Deutschunterricht über mich ergehen. Ich weiß noch, dass ich zwischendurch dem Unterricht folgen konnte. In der Pause setzte ich mich, wie immer, auf meine Bank. Na ja, eigentlich war es nicht meine Bank, nur war es eben die, auf der ich immer saß, also sozusagen meine. Ich sah diesen Menschen zu, wie sie alle über so belanglose Dinge redeten. Dinge, die oberflächlich und uninteressant waren. Dinge, die ich nicht verstehen konnte. Es gab doch so Vieles, was wichtiger und vorrangig gewesen wäre- aber das interessierte sie einfach nicht. Meine Welt war dies schon lange nicht mehr. Ich hatte mich anders entschieden. Ich war nicht Louise, nicht die Louise, wie alle sie haben wollten, ich war anders. Ich war ich und nichts Verstelltes, Anderes. Denn was ich von jenem Tag verfolgte, mein Ziel, war zu meinem ganzen Lebensinhalt geworden. Und ich sollte noch herausfinden, dass es mehr als das wurde. Es wurde zu meinem Leben.
Kapitel 2
Als ich zu Hause ankam, stand das Essen bereits auf dem Tisch. Es roch nach Gemüse und dazu gab es Fleisch, wie jeden Montag. Mein Vater wuselte irgendwo im Haus herum, während er irgendetwas Unverständliches vor sich hin fluchte. „Louise, da bist du ja. Wie war der erste Schultag nach den Ferien? Setzt dich an den Tisch, es gibt gleich essen“, sagte meine Mutter und musterte mich erneut. Als zehn Minuten später alle am Tisch saßen, also meine Mutter, mein Vater, Tessa und ich, fragte sie erneut: „Also, wie war dein Tag, Louise?“
„Ganz okay, wie immer halt. Ich habe Hausaufgaben zu machen und nächste Woche schreiben wir einen Test in Mathe.“
„Oh, okay. Dann musst du noch dafür lernen.“
Das weitere Gespräch verlief ähnlich, nur fragte sie Tessa, wie ihr Tag gewesen sei. Tessa berichtete, wie immer, nichts. Ihr Schweigen verriet sowohl nichts Gutes, als auch nichts Schlechtes. Es war neutral.
Als alle fertig gegessen hatten, stand ich auf und ging in mein Zimmer. Ich fing an Hausaufgaben zu machen. Doch nicht lange konnte ich mich darauf konzentrieren. Seit einigen Tagen war es kaum auszuhalten, warum kann ich nicht sagen. Die Gedanken kreisten um das Thema, das eigentlich auch das wichtigste in meinem Leben war. Tiere. Ich zog meine Reithose an und schlich mich aus dem Haus, hinterließ eine kurze Nachricht, dass ich bis zum Abendessen wieder da sei und fuhr los. Als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, stellte ich mein Fahrrad schnell ab, befestigte ein Schloss in den Speichen und an einer Stange, bevor der Bus kam. Als er endlich vor mir stand, zögerte ich kurz, ob ich wirklich einsteigen sollte. Würde Mama sich wieder zu große Sorgen machen? Und was, wenn ich dort schon längst nicht mehr willkommen war? Oder noch schlimmer- Was, wenn Stern, also das Pony, um das ich mich lange Zeit gekümmert und geritten hatte, schon jemanden Neues hatte? Was wenn er mich nicht mehr erkannte, oder…“Was?!“  Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als der Busfahrer verärgert fragte, ob ich nun einsteigen wollte oder doch nicht. Still stieg ich ein, zeigte meine Fahrkarte und setzte mich an den nächstbesten freien Platz. Ich war immer noch in Gedanken versunken, als ich bemerkte, dass ich an der nächsten Haltestelle aussteigen musste. Als der Bus zum stehen kam, stand ich auf und stieg aus- als Einzige. Der Bus fuhr und da stand ich nun. Unsicher, ob ich weiter gehen sollte. Sollte ich es? Oder etwa nicht? Es war bereits ein Jahr her, dass ich hier gewesen war. Sie hatten mich sicher schon vergessen. Oder? Würde er mich erkennen? Und die Kühe, die ich so liebte, würden sie sich erinnern können? Für sie wäre ich sicher nur Irgendjemand. Wie wäre es wohl, nach einer Ewigkeit dort hin wiederzukommen? Sollte ich nun weitergehen? Sollte ich?         
Inzwischen saß ich beim Abendessen. Meine Mutter hatte nicht gefragt wo ich gewesen war, jetzt jedoch tat sie das.
„Wo warst du, Louise?“
„Ich war nur draußen und bin durch die Gegend gegangen und so. “
„Und in Wirklichkeit?“
„..bin ich mit dem Bus gefahren.  Ich wollte..“
Ich betrachtete den Blick meiner Mutter. Sie sah überrascht aus, daher fügte ich so schnell es ging hinzu:
„Aber ich bin doch nicht hingegangen. Ich bin zurück gefahren.“
Meine Mutter sagte nichts mehr weiter. Wie immer. In unserer Familie, die nach außen hin perfekt schien, wurde vieles einfach tot geschwiegen. So wie dieses Thema. Seit einem Jahr war ich nicht dort gewesen. Ich wusste nicht, wieso ich zurück gefahren war. Ich hatte es noch nicht für richtig empfunden wieder dort hinzugehen. Ich fühlte mich noch nicht bereit. Wollte noch warten, es musste Zeit vergehen, vielleicht noch ein Jahr, wer weiß? 
Dennoch wirkte meine Mutter nun nicht mehr glücklich, kurz angebunden, anders als vor zehn Minuten. Vielleicht hätte ich sie anlügen sollen, ihr sagen sollen, ich war bei einer (nicht vorhandenen) Freundin oder spazieren gewesen. Aber das habe ich nicht getan, wieso wusste ich nicht. Aber es war wahrscheinlich trotzdem besser so. Ich stocherte in meinem Salat herum, bis mein Vater mich darauf aufmerksam machte. Er hatte von dem vorherigen Gespräch nichts mitbekommen und daher wusste er auch nicht, was die Stille, bis auf die meiner Schwester, nun bedeutete. Das war auch besser so. Da ich gerade keine Ahnung hatte,  was ich sagen sollte, fing ich einfach an mit meinem Vater über das Wetter zu reden.
„Ist ein schöner Tag heute, nicht wahr?“
„Ja, sicher. Warst du denn überhaupt einmal draußen? Du könntest dich ruhig mit dem Vorgarten beschäftigen. Das Unkraut schreit danach, endlich beseitigt zu werden und über ein bisschen Wasser würden sich die Rosen auch freuen.“
„Mal sehen. Ich steh nicht so auf Garten und Beete und Blumen und sowas. Weißt du doch. Ich hoffe, das Wetter hält sich noch eine ganze Zeit.“
Meine Mutter beteiligte sich nicht am Gespräch, was ja eigentlich auch keins gewesen war. Sie sah nicht mal zu uns auf, starrte nur still auf ihren Teller. Alles was ich wusste, war, dass sie sich den Kopf zerbrach, ob ich wohl noch einmal hinfahren würde. Zu ihm. Zu Stern. Es war die schwierigste Zeit meines Lebens gewesen, ohne ihn, ein Jahr lang voll Kummer und Schmerz. Aber ich hatte den Anblick dieses Pferdes nicht mehr ertragen können, nach jenem Tag im April vor einem Jahr.
„Also, was ist nun?“, fragte mein Vater leicht gereizt. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er weiter gesprochen hatte.
„Was ist?“
„Ich fragte, junge Dame, ob du heute den Abwasch machen könntest? Deine Schwester ist heute mit ein paar Freundinnen verabredet und deine Mutter und ich werden ins Kino gehen.“
„Ach so, den Abwasch, ja, klar. Mache ich.“
Damit stand mein Vater auf, ebenso tat es Tessa. Meine Mutter blieb sitzen, aber auch sie stand bald auf. Tessa verschwand im  Badezimmer und mein Vater und meine Mutter machten sich fertig fürs Kino. Ich fing an die Spülmaschine auszuräumen, die fertigen Geschirrgegenstände in die Schränke zu räumen. Dann stapelte ich Gläser, Teller und Besteck und räumte es ebenfalls wieder in die Spülmaschine ein, schaltete sie an. Wischte den Tisch ab und ich stellte die Stühle an den Tisch. Das wäre erledigt. Meine Eltern und Tessa verließen das Haus gleichzeitig. Nun war ich also alleine. Stille machte sich sehr schnell im Haus breit. Die Gedanken kreisten nur so, schrien mich an. War es richtig gewesen, heute dorthin zu fahren und wieder zurück zu fahren, ohne bei ihm gewesen zu sein? Hätte ich den Mut haben sollen? Für Stern? Für mich? War es an der Zeit gewesen, wieder mutig zu sein und vorauszublicken? Sollte ich etwa…? Doch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte, hatte ich mich schon innerlich entschieden. Ich zog mir rasend schnell meine Reithose an und fuhr mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle, stellte das Fahrrad ab und bekam noch grade so den halb sechs Uhr Bus. Ich starrte aus dem großen Fenster des Busses. Begriff noch gar nicht wirklich, was genau ich da vorhatte. Seit einem Jahr war ich nicht mehr da gewesen. Wie stellte ich mir das nur vor, auf einmal wieder da zu stehen und zu sagen: Hallo, hier bin ich wieder?
Der Bus hielt, ich stieg aus. Es war dieselbe Situation wie vor etwa fünf Stunden. Ich ging entschlossen los. Zögerte noch kurz, ging aber weiter. Es würde fünf Minuten bis zur Weide dauern, die genau gegenüber vom Haus lag. Zeit genug, um es sich anders zu überlegen. Zeit genug, um sich umzudrehen und zurückzufahren. Zeit genug, um aufzugeben. Ich musste nicht stark sein. Ich musste gar nichts. Aber mit jedem Schritt merkte ich, dass ich wollte. Wollte zu ihm, er fehlte mir, jede Sekunde hatte es mir vergangenen Jahres schmerzlich deutlich gemacht. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, konzentrierte mich auf meinen Atem. Sollte ich es wirklich tun?
Drei Minuten später stand ich an der Weide. An seiner Weide. Da standen sie beisammen. Alle Pferde, die ich Monate lang mehrmals die Woche sah und die mir unwahrscheinlich viel bedeutet hatten- und das taten sie trotz allem immer noch. Ich zählte sechs Pferde- von acht. Klar, Bonita, die schöne weiße stand im Stall, wie immer, denn sie hatte eine Hufkrankheit und musste drinnen bleiben. Aber ich vermisste noch jemanden auf dieser Weide. Er fehlte. Stern war nicht zu sehen. Ich wusste nicht, wieso ich in die Knie ging, aber in diesem Moment brach eine Welt für mich zusammen. Wo ist er? Haben sie ihn etwa verkauft? Lebt er noch? Geht es  ihm gut? Wollte Mama daher nicht, dass ich hierher kam? Ich spürte die Verzweiflung aufkommen.  Dieser Stich in meinem Herz war unerträglich, machte mich schwach. Was jetzt? Ich ging weiter, kletterte zwischen dem Zaun her, auf die Weide. Ich wollte mutig sein, wollte es so sehr. Sie kamen auf mich zu, neugierig, wer ihre Weide betrat. Die Tränen liefen nur so aus meinen Augen, als mich als erstes Enrico erreichte, ich ihn umarmte. Es tat so gut, sein Fell zu spüren, seine Wärme. Und ich war mir sicher, sie würden mich noch erkennen. Ich streichelte ihn weiter, während ich mich dem nächsten Pferd zuwendete. Urona kam zu mir, vorsichtig, bedacht, aber immerhin kam sie. Sie war Sterns Schwester, glich ihm sehr aber nicht ganz. Ich streichelte sie ausgiebig und begrüßte auch die anderen: Nero und Ginat, die zwei großen Kaltblüter. Dann Mette, die eigentlich Nette hieß und Enricos Schwester war. Sie sahen sich auch sehr ähnlich, beide Schwarz und auch eine schwarze Mähne, unterschieden sich in ein paar Einzelheiten jedoch deutlich. Dann Appanatschi, ein Pferd, dass schwarz- weiß war, einen eigenen Willen, aber liebenswert wie alle anderen Ponys und Pferde auch. Sie umgaben mich und das erste Mal nach Monaten fühlte ich mich geborgen, sicher, zu Hause. Die Tränen liefen nur so, bis ich dachte ich hätte keine Tränen mehr. Tränen der Erleichterung, um den Schmerz erneut zu spüren. Aber es wirkte befreiend, eine Last die ich mit mir herum getragen hatte wurde leichter. Ich kuschelte mich an Enricos Hals, er verweilte. Dann beschäftigte er sich wieder damit, Gras vom Boden zu zupfen und ließ mich außer Acht. Ich war völlig schwach und fertig, fühlte mich dennoch so erleichtert.
„Hallo, was machst du da?“
Zu Tode erschrocken fuhr ich herum. Mein Herz blieb stehen, mein Atem stockte. Völlig verheult stand ich vor diesem Jungen, den ich nicht kannte, blickte ihn ungläubig an.
„Hi. Entschuldige, ich wollte nicht stören. Nur eben,  ach ich geh wieder, ähm, nochmal tut mir leid.“ Sagte er selbst verwirrt. Er drehte sich um, ging einige Schritte, als ich es mir anders überlegte.
„Hallo“, rief ich ihm hinterher und ging ihm nach. Er blieb stehen, musterte mich, mein verheultes Gesicht musste schrecklich erniedrigend aussehen.
„Hey. Ich bin Louise und du?“
„ Evan. Freut mich. Kann ich dir helfen?“
„Ja vielleicht, danke, kannst du mir sagen wo Stern ist? Das Pferd?“
„Stern? Ja, natürlich. Wieso interessierst du dich für ihn? Er ist hinten im Stall.“
„Ich kenne ihn, ich habe ihn länger, ähm, ich kenne ihn halt.“
Evan starrte mich an. Als er bemerkte, dass es etwas zu auffällig war, schaute er weg. Er sah gut aus, keine Frage, aber ich musste zuerst zu ihm. Zu Stern, in den Stall. Ich winkte, lächelte, wischte die Tränen aus meinem Gesicht und ging Richtung Hof.
„Louise? Warte!“
Ich blieb stehen, blickte zurück.
„Ist alles okay mit dir? Du weinst. Ich, äh, brauchst du Hilfe?“
Ich schüttelte den Kopf, meine Lippen formten ein leises „Danke“ und ich ging weiter. Ich erblickte zuerst den Kuhstall. Dann das Haus von der Familie, denen dieser Hof, so auch die Pferde, gehörten. Dann den Stall. Von weitem schon erblickte ich die zwei Pferde die dort standen. Ich ging um den Stall herum, nun stand ich vor ihnen. Und da stand er. So etwas Grausames hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich war schockiert, taumelte einige Schritte zurück. Was ich sah, berührte mich zu tiefst. Erneut traten Tränen in meine Augen.
Stern blickte erst irritiert, dann panisch zu mir. Er hastete ein paar Meter rückwärts, ehe er anfing wie verrückt durch seine Box zu springen, völlig außer sich, verwirrt. Ich ging ein paar Meter auf ihn zu, er drückte sich mit aller Gewalt an die hintere Wand seiner Box. Diesen Ausdruck in seinen Augen werde ich nie wieder vergessen. Hilflos stand er da, den Kopf hoch und die Augen weit aufgerissen, schnaubte vor sich hin. Als ich die Stangen seiner Box berührte, fing er erneut an, er trat aus, wieherte laut, sprang von links nach rechts, ehe er stolperte, stürzte und einen Moment am Boden lag. Ich ging ein Stück zurück, er stand wieder auf und blickte völlig fertig, ängstlich in meine Richtung. Sein Kopf war gesenkt, er atmete schwer, so, als wäre er gerade von etwas wahnsinnig Schlimmen verfolgt worden. Ich atme tief durch. Das war es also, wieso ich nicht wieder hier her kommen sollte. Misstrauende Blicke warf er mir zu, ehe er sich wieder in die hintere Ecke seiner Box verzog. Sobald ich mich bewegte, und sei es nur ein Haar, dass im Winde wehte, blickte er wie erstarrt zu mir, lief unruhig in seiner Box umher und gelegentlich trat er um sich, sprang in die Luft. Bonita schien sein Verhalten nicht zu stören. Es schien, sie kenne sein Verhalten gut genug, um sich davon nicht einschüchtern, noch nicht mal stören zu lassen. Sie fraß gemütlich und ruhig ihr Heu weiter, blickte das ein oder andere Mal zu mir auf, wandte sich aber immer schnell ihrem Futter zu, so, als ob es ihr jeden Moment abhandenkommen könnte. Sie waren in zwei getrennten Boxen. Kein Wunder, dachte ich. Ich war immer noch wie elektrisiert, als ich plötzlich bemerkte, dass jemand neben mir Platz genommen hatte. Evan blickte mich an. Jetzt bemerkte ich seine Augen, die blau und klar in meine sahen. Er war schmal und groß, ein langes Gesicht mit feinen Zügen.
„Hey.“
„Hey.“
Ich beachtete ihn nicht weiter, sah mir dieses verstörte, wahnsinnig verängstigte Pferd an, voller Kummer und Schmerz, so ein hilfloses Wesen. Was hatte ich nur getan?  Ich stieß einen Seufzer aus, aufs Neue begann er wie wild durch seine Box zu stürmen. Mist, dachte ich, ehe ich realisierte, dass mein Handy klingelte. Benommen ging ich dran.
„Hallo?“
Meine Mutter meldete sich.
„Louise? Wo bist du? Tessa hat angerufen, das du nicht zu Hause warst, als sie zurück kam und sie nicht wisse wo du bist. Wo im Himmel steckst du?“
„Ich, ähm, na ja, also, Mama, ich bin bei Stern.“
Ein seufzen am anderen Ende der Leitung. Dann eine sich endlose hinziehende Pause.
„Louise, hör mal. Ich habe dir doch gesagt du sollst nicht ohne mein Wissen dorthin gehen. Ich möchte, dass du sofort nach Hause kommst und wir reden dann noch einmal über die Sache. Aber ich möchte einen beruhigten Abend mit deinem Vater im Kino haben. Der Film fängt in zehn Minuten an und ich möchte ihn nicht verpassen. Einverstanden?“
Ehe ich überlegen konnte, was ich tat, drückte ich die rote Taste meines Handys. Aufgelegt. Es folgten ungefähr fünf weitere Anrufe und vier SMS. Aber das war gerade mein kleinstes Problem. Denn das, was mich beschäftigte, war nicht meine sich Sorgen machende Mutter. Stern. Wie er dort wie ein gehetztes Tier durch die Box jagte, völlig fertig und am Ende seiner Kräfte.
„Schlimm, oder?“, fragte Evan mich nach einer ganzen Weile.
„Mehr als das.“
„Ich mache seit fünf Monaten hier eine Lehre. Und ich habe mir dieses Pferd stundenlang, wenn ich nichts zu tun hatte, angesehen. Und werde nicht schlau draus, was mit diesem Tier los ist, und warum es überhaupt so drauf ist.“
„Ich schon“.
Eine Pause entstand in der Schweigen die Stille beherrschte. Dass er nicht nachfragte, fand ich stark. Ich saß dort, die Zeit verstrich und plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter.
„Mach dir nichts draus“, sagte Evan schließlich und ging, ohne weiter etwas zu sagen. Ich bemerkte wieder Stern, der unruhig in seiner Box zum x-ten Mal herumlief. Vor einem Jahr war das einmal der schönste Wallach gewesen, den ich kannte. Jetzt erinnerte er mich eher an ein wild gewordenes Ungeheuer. Ich stand auf, trat an die Stangen seiner Box heran, er sah mich an, ließ mich keine Sekunde aus den Augen.
„Louise?“
Verwirrt drehte ich mich um. Vor mir stand Gordon. Gordon! Der Gordon! Ich traute meine Augen nicht, fiel ihm in die Arme, war glücklich ihn heil und wohl auf wieder zu sehen.
„Louise! Du bist es!“
„Gordon!“
„Komm, wir gehen rein, zu Flora.“
Wir gingen. Ich sah nicht mehr zurück zu Stern, wusste aber, er sah mir nach. Ich wollte nicht mehr wirklich an ihn denken. Ich begrüßte Gordons Frau Flora. Wir saßen noch eine ganze Weile am Tisch und redeten, doch keiner sagte einen Ton über das vergangene. Ich trank meinen Tee aus und  ich versprach am nächsten Tag noch einmal wieder zu kommen, ich musste nach Hause, es war spät.
Ich saß im Bus und wusste nicht so wirklich, was ich denken sollte. Ich  schaute aus dem Fenster, die Nacht war eingebrochen, es war dunkel. Als ich an meinem Ziel an kam stieg ich aus, nahm mein Fahrrad und ging durchs Dunkle nach Hause.
Kapitel 3
Zu Hause angekommen schloss ich leise die Tür auf. Die Digital- Uhr im Flur zeigte 10:21 Uhr. Es war spät geworden. Meine Eltern waren noch nicht hier, das Auto stand nicht in der Auffahrt. Ich ging schweigend in mein Zimmer, Tessa war in ihrem Zimmer, denn ich hörte ihre Musik. Ich legte mich ins Bett und schlief ein, tief und fest. Irgendwann, so glaube ich, kam Mama noch einmal nach mir sehen, aber ich schlief weiter.
Am nächsten Morgen wollte ich gar nicht wach werden. Als der Wecker mich aus dem Bett zwang, fielen meine Augen immer wieder zu, ich war schlicht nicht in Form für Schule. Also sagte ich Mama, ich sei krank und blieb im Bett.
Meine Mutter verlor kein Wort mehr darüber, dass ich bei Stern gewesen war. Kein einziges. Weil immer alles tot geschwiegen wurde.
Als Meine Mutter um halb 11 das Haus verließ und zur Arbeit fuhr, stand ich auf. Sie arbeitete als Sekretärin einer Firma. Mein Vater war von Beruf Dachdecker, er war selten zu Hause.
Ich holte mir was zum Essen aus dem Kühlschrank, dann setzte ich mich vor den Fernseher und schaltete von Programm zu Programm. Als ich gerade angefangen hatte, „Mitten im Leben“ zu schauen, fiel es mir wie ein Blitz ein: Ich hatte doch Gordon versprochen, noch einmal bei ihm vorbei zu sehen. Heute. Jetzt, wo Mama nicht da war. Sollte sie nämlich gegen vier Uhr wieder zu Hause sein, und rausfinden, dass ich bei Stern bin, würde sie sicher durchdrehen. Aufgeregt und gehetzt sprang ich auf, lief ins Badezimmer. Zähneputzen, Gesicht waschen, Haare kämmen, schminken. Fertig. Ich zog mir meine Stallsachen an und rannte zum Bus, den ich so grade noch bekam. Auf der Fahrt tippte ich regelmäßig aufgeregt mit dem Finger gegen die Fensterscheibe, bis schließlich der Busfahrer meinte, ich solle das lassen. Der Busfahrer wirkte sehr zierlich, älterer Mann, ich schätze Mitte 60. Normal waren unsere Busfahrer immer sehr kräftig und einmal fuhr sogar eine Frau. Aber dieser Mann, graue Haare, Hemd und Jeans, dazu braune Schuhe und eine Kappe, der fiel mir irgendwie auf, wieso, keine Ahnung. Als wir ankamen, stieg ich aus, und ich erreichte den Hof- nass vom Regen- nach 2 Minuten, da ich rannte wie eine gehetzte Kuh (Ja, Kühe können gehetzt und schnell sein). Ich ging mit gesenktem Kopf die Treppen zum Wohnhaus herauf, klopfte kurz und trat schließlich ins Haus ein. Ich zog meine Schuhe aus, und ging in die Küche, Gordon und Flora saßen beim Frühstück. „Hallo, Louise! Schön, dass du gekommen bist“, sagte Flora mit einer so mir vertrauten Stimme, dass es sich  fast wie eine Heimkehr anfühlte. Entschlossen nahm sie mich in die Arme und für einen Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen. „Wie geht´s Dir, alles in Ordnung?“, fragte sie und setzte sich wieder hin, ich tat es ihr nach. „Ja, ähm, Ja, soweit ist alles Okay.“ Wir redeten noch eine ganze Weile, Gordon musste jedoch in den Stall.
„Also, Louise, nun musst du mir allerdings verraten, was dich hierher getrieben hat. Ich bin mir sehr sicher, dass das sehr zum Missfallen deiner Mutter ist, habe ich Recht?“, fragte Flora nach einer kurzen Tee-Pause.
„Ja, du hast Recht. Und sie darf es unter keinen Umständen erfahren, versprichst du das?“
„Ja. Aber ich tu das nicht gerne, das weißt du. Das müsst ihr unter euch klären.“
„Danke, Flora. Ich bin hier, weil ich zu Stern wollte. Aber was ich gestern gesehen habe, hat mich sehr stark schockiert, ich bin immer noch ganz benommen. Was ist mit ihm los?“

„Das ist eine gute Frage, mein Kind. Er ist einfach nicht mehr der Selbe geworden, wie früher, du weißt schon. Anfangs hat er nicht gefressen. Er hat wahnsinnig abgebaut und wir dachten, er schafft es nicht über den Winter. Als Evan vor fünf Monaten kam, hat es sich gebessert. Er hat Zeit mit ihm verbracht, und Gordon hat ihm oft die Möglichkeiten dazu eingeräumt. Er hat eine kaputte  Pferdeseele, und die kann man nicht einfach mit einem Pflaster wieder zusammenkleben. Das braucht Zeit und Zuwendung, und ehrlich gesagt braucht es ein kleines Wunder. Ich habe Zweifel, dass er je wieder der Alte wird.“
„Und das alles ist nur meine Schuld.“, sagte ich und senkte den Kopf. Ich war schuldig. Ich, nur ich. Flora legte einen Arm um mich: „Nein, du hast keine Schuld zu tragen.. Mach dir keinen Vorwurf, Liebes.“
„Aber es ist mir passiert und nicht dir und nicht Gordon und nicht einem anderen Menschen. Ganz allein mir und Stern. Und wegen mir wird er nie wieder ein lebenswertes Leben haben werden, Jenny wird nie wieder zurück kommen! Sie wird nie wieder hier sein, Flora! Nie wieder! Stern wird für immer verängstigt und scheu sein. Oh mein Gott, was habe ich nur getan?“
„Jetzt mach dich in Gottes Namen bitte nicht so verrückt und hör endlich auf, so einen Mist zu erzählen! Du hast keinerlei Verantwortung zu tragen. Und jetzt geh am besten in den Stall. Wenn du willst, kannst du zu Stern gehen, wenn nicht, dann kannst du Gordon im Stall helfen oder sonst etwas. Ich muss jetzt mal einkaufen fahren und ich hoffe, wir werden uns demnächst wieder öfter sehen, in Ordnung?“
„Okay. Danke, Flora!“
Wir verließen beide das Haus und ich ging zu Gordon, zu Stern wollte ich jetzt nicht. Er war gerade dabei, einige Nummern der Kühe aufzuschreiben.
„Hey, was machst du?“, fragte ich ihn.
„Hallo, ich schreibe mir gerade auf, wen ich alles an den Klauen behandeln muss, magst du mir helfen?“
„Ja, klar, was muss ich tun, Sir?“
„Nicht so frech junge Dame, also, schreib mir mal die Nummern auf die ich dir zurufe, ich werde durch die Herde gehen und mir mal die Klauen kurz ansehen.“
„Okay“, sagte ich und nahm Stift und Papier entgegen.
„!70, 356, 280, 35, 19, 92, 134“
Ich schrieb mit und war innerlich glücklich. Irgendwie war da ein Stück Vertrautheit. Das gefiel mir.
„Hast du das aufgeschrieben?“, rief Gordon, ehe er auf mich zukam.
 „Japs, habe ich“, antwortete ich lächelnd.
Wir suchten uns die Kühe heraus, die ich aufgeschrieben hatte und Gordon behandelte sie nach der Reihe an den Klauen. Manche, weil sie lahm gingen oder irgendetwas anderes hatten, andere einfach vorsorglich. Es dauerte fast eine Stunde, und dann gingen wir in den Kälberstall und fingen an die Boxen mit Stroh zu streuen.
„Und, wie läuft es so zu Hause?“, fragte Gordon nach einiger Zeit.
„Es geht. Du kennst ja Mama. Sie nörgelt viel und so. Aber das ist ja irgendwie auch normal.“
„Weiß sie, dass du hier bist.“
Ich schwieg, und damit bekam er wohl seine Antwort.
„Louise, ich freue mich sehr, dass du hier bist, aber du weißt, ich unterstütze das nicht. Das deine Mutter hintergangen wird, verstehst du?“
„Hintergangen?! Ich hintergehe sie nicht. Sie verbietet mir lediglich Etwas, ohne dass ich nicht leben kann und möchte!  Ich habe jetzt ein Jahr lang zu Hause rumgesessen und vor mich hin vegetiert. Es reicht langsam. Ich will wieder was vom Leben haben, außer eine Couch und jede Menge Fernsehsender.“
„Du musst das mit deiner Mutter abklären, und jetzt lass uns das Thema wechseln“
Wir machten die Kälber fertig und gingen dann nach drinnen, um etwas zu trinken. Inzwischen war Flora wieder da, und sie packte Fotoalben auf den Tisch. Fotos, die mich und Stern vor einem Jahr zeigten. Meine Laune wurde ernster und schlechter, von Bild zu Bild. Aber als ich das Bild sah, das wenige Tage vor jenem Tag im April entstanden war, konnte ich die Tränen nicht mehr zurück halten. Mandy, Jenny und ich. Die Erinnerungen taten viel zu sehr weh und ich wünschte, ich wäre niemals hier her gekommen. Ich versuchte, die Tränen zurück zuhalten. Aber es ging nicht. Sie flossen und flossen und wollten gar nicht mehr aufhören zu fließen. Flora nahm mich in den Arm und sprach mir gut zu. Ich versuchte mich zu beruhigen. Aber wie sollte ich mich so beruhigen? Wo dieses Pferd verstört und völlig fertig dort draußen in seiner Box steht und unglücklich ist, und was nur wegen mir? Wo Jenny tot war?
Wir tranken noch zusammen Tee und dann verabschiedete ich mich.
Es sollte ein Neuanfang sein, doch den wird es wohl nie geben. Es sollte alles besser machen, doch das wird es wohl nie tun. Es wird nie wieder wie es einmal war. Und allein ich bin schuld.
Die Gedanken schossen wild durch meinen Kopf, während ich im Bus nach Hause saß. Der Busfahrer fuhr wie eine Sau, fiel mir gerade ein, ehe er auch schon eine Vollbremse machte. Unvorbereitet schlug ich mit dem Kopf nach vorne.
Kapitel 4
Meine Erinnerung setzte wieder ein, als ich mich in einem weißen, sterilen Krankenhauszimmer befand. Benommen öffnete ich die Augen. Mein Kopf schmerzte furchtbar und ich wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich sah meine Mutter und meine Schwester. Meine Mutter legte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn und rief eine Krankenschwester zu mir.
Besorgt sah sie mich an und sagte: „Louise, ein Glück, dass es Dir gut geht! Mein Schatz, der Busfahrer musste eine starke Bremsung machen und Du bist mit dem Kopf auf den vorderen Sitz gestoßen“. Ich richtete mich langsam auf und ich spürte den Schmerz in meinem Kopf. Ich hatte einen Verband angelegt bekommen und andere Kleidung hatte ich auch an. Dann kamen langsam alle Erinnerungen zurück. Mein Kopf hämmerte noch immer, aber ich konnte mich an die Busfahrt erinnern. An Stern.
„Ich lasse dich allein“ sagte meine Mutter und verließ das Zimmer.
Ich versuchte mich so gut es ging an Alles zu erinnern, doch mein Kopf tat zu weh. Gedanken kreisten in meinem Kopf zu wild umher, um sie ordnen zu können. Ich musste hier weg, musste weg aus diesem fremden Zimmer, weg von dem was mich erdrückte und hin zu dem, der mir Alles bedeutet hatte. Stern.
Ich saß neben Sterns Box. Es war kalt und ich fror, doch mein Blick war wie starr auf dieses wilde Wesen gerichtet. Er fesselte mich. Trotz seiner großen Angst und dieser Hilflosigkeit faszinierte er mich, wie damals. Wie damals, aber damals waren Jenny und Mandy auch noch da gewesen. Ich sah hoch, Evan war gekommen.
„Was machst du hier, Louise? Solltest du nicht im Krankenhaus sein?“
Ich sagte nichts. Stattdessen liefen die Tränen nur so, ich konnte sie nicht mehr zurück halten. Sie rannen und rannen und wollten nie wieder aufhören, der Schmerz war zu tief eingebrannt und er fesselte mich jede Sekunde meines Lebens, seit Alles an diesen einem Ereignis auseinander gebrochen war. Evan setzte sich neben mich und legte seinen Arm um mich, und ich fühlte mich unglaublich geborgen bei ihm. Ich kannte ihn nicht, dennoch hatte ich das Gefühl ihn schon lange zu kennen und ihm vertrauen zu können. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und weinte, weinte, ich weinte, bis man meinte, die ganze Welt weine.
„Erzählst Du mir davon?“, sagte Evan ganz leise, als flüstere er es mir zu.
„Wovon?“, fragte ich ebenso leise zurück.
„Na von ihm.“
Eine neue Flut von Tränen ergriff mich. Doch Evan hielt mich, er stand mir zur Seite und gab mir Kraft, und das machte uns zu etwas Besonderem.
„Früher war er das tollste Pferd. Ich liebe Stern über Alles. Ich ging..“
Tränen voll bitterer Erkenntnis rannen über meine Wangen. Erkenntnis, dass ich ihn zerstört hatte.
„Ich ging andauernd mit ihm ausreiten, wir hatten eine Menge Spaß und ja, wir waren ein gutes Team.“
„Was ist passiert, dass er so geworden ist, Louise?“, fragte Evan und schaute mich mit großen Augen an.
„Ich war mit Mandy und Jenny ausreiten, wir hatten super Laune. Das war vor ziemlich genau einem Jahr. Ich ritt auf Stern, Mandy auf Enrico und Jenny, sie ritt auf ihrem eigenen Pferd Ascalon. Wir ritten durch den Wald, über eine kurvige Straße. Dann entschied ich, einen Hang hochzureiten, er war ziemlich Steil und verschüttet, ich hätte es besser wissen müssen. Ich ritt also voran, hinter mir Mandy und Jenny. Wir sangen irgendein lustiges Lied. Mitten im Hang fing Stern dann auf einmal an zu rutschen. Ich trieb ihn weiter an, doch er verlor endgültig den Halt. Wir stürzten den Abhang herunter und ich riss Jenny und Mandy mit. Wir rutschten bis auf die Straße. Als wir gerade auf der Straße waren, kam ein großer LKW um die Ecke gerast. Er bremste heftig, doch der Abstand war zu kurz. Ascalon ging vor dem LKW hoch und er fiel mit Jenny zu Boden. Enrico und Mandy konnten sich vor dem LKW in Sicherheit bringen, doch Stern ging ebenfalls hoch und wir wurden mit voller Wucht zur Seite geschleudert. Mandy und Enrico ist nichts passiert, ich hatte einige Rippen gebrochen und ein Bein, Schleudertrauma und Verstauchungen. Jenny ist dabei ums Leben gekommen und Ascalon auch. Seit diesem Tag war ich nie wieder hier, bis vor kurzem, und ich wusste auch nicht dass es Stern so schlecht geht. Ich bin Schuld, Evan. Ich bin Schuld das Jenny tot ist und Ascalon, und dass dieses einst wundervolle Pferd jegliches Vertrauen in die Menschen verloren und so verängstigt ist. Ich bin Schuld Evan, und das raubt mir die Kraft in jedem Atemzug.“
Ich senkte den Kopf. Ich hatte es zum ersten Mal ausgesprochen. Zum ersten Mal den Gefühlen und den Gedanken Worte gegeben. Zum ersten Mal zum Ausdruck gebracht, was mit mir los war, obwohl es hätte offensichtlich sein müssen. Diese ganze Schuld, die mich seit Monaten um den Schlaf brachte und mich wahnsinnig traurig stimmte, hatte Worte gefunden. Ich hatte Jenny umgebracht.
Laut weinend brach ich in mir zusammen. Mir fehlte die Luft zum Atmen und ich zitterte am ganzen Körper. Evan streichelte meinen Kopf, dann nahm er mich hoch und trug mich zu den Heuballen, zwischen denen er mich schließlich runter ließ. Er setzte sich hin und ich setzte mich eng an ihn. Diese alte Vertrautheit die da war, obwohl wir uns nie gesehen hatten und uns fremd waren, sie löste so viel Wärme in mir auf. In dem Jahr nach Jennys Unfall, das erste Mal das ich mich lösen konnte. Das ich los lassen konnte und mich aufgefangen fühlte. Ich hatte das Gefühl, er würde mich halten bis ich wieder alleine stehen kann und er würde niemals loslassen. Ich kuschelte mich an ihn und Evan drückte mich fest an sich, während er meinen Kopf behutsam streichelte und mir neue Energie gab.
„Louise. Es ist mir egal, was damals war. Es ist auch egal, was irgendwann sein wird. Du bist hier, sei einfach du, denn du bist gut so, wie du bist, und ich finde dich genauso bezaubernd.“, sagte Evan und küsste mir lieblich auf die Stirn.
Ich drehte mich zu ihm, küsste ihm ebenfalls auf die Stirn. Seine Lippen berührten meine Wangen, die Nase, das Kinn und schließlich lagen sie sanft auf den meinen, und ich spürte das Pulsieren im Körper, das Kribbeln bis in die kleinste Faser meines Körpers. Langsam bewegte ich meine Lippen und seine machten es mir nach. Seine Hände streiften vom Kopf über meine Arme bis zu meinen Händen. Er nahm meine Hände und drückte sie leicht. Er lächelte, ehe er mich erneut küsste, voll Hingebung und Leidenschaft. Das Kribbeln verlagerte sich überwiegend in meine Bauchgegend. Glücksgefühle, so würde ich sie nennen. Seine Hände wanderten weiter, über meinen Bauch und meine Schenkel, die Knie und die Füße. Wieder herauf, diesmal die Innenseiten meiner Schenkel, angekommen am Bauch tastete er sich unter meinem T-Shirt weiter, am Rücken bis zum Nacken. Dann küsste er sanft meinen Nacken und atmete seinen warmen Atem in mein Shirt. Seine Lippen fanden den Weg zurück zu meinen Lippen und wir küssten uns weiter. Er öffnete meinen BH und tastete sich über meinen Bauch hoch zu den kleinen Brüsten, während Evan mit der anderen Hand meinen Gürtel öffnete…
Kapitel 5
„Gordon? Kann ich dich was fragen?“, fragte ich Gordon am nächsten Morgen.
„Ja, Louise, bitte“, antwortet er und lächelte freundlich.
„Also, ich weiß nicht ob es eine gute Idee ist. Aber ich und Evan..“
„Ach, du und Evan also?“, unterbrach Gordon mich und grinste mich an.
„Gordon! Also, ich und Evan haben überlegt wieder anzufangen, ich meine, also, mit Stern zu arbeiten.“
Ein Seufzen füllte die endlos lange Pause zwischen unserem Gespräch.
„Louise, ich weiß das war Alles sehr schlimm für dich und für uns war es das sicher auch, für uns Alle war es das. Und das Stern so verändert ist, ist auch sehr schwer zu akzeptieren. Der Unfall, dass Jenny ums Leben kam, das hat dich sehr verändert, nicht ins Negative weißt du, aber, meine Frage ist einfach, ach was, ich muss es irgendwann  fragen: Louise, kommst du damit klar?“
„Ich komm schon damit klar und ich bin es diesem Tier schuldig Gordon, ich stehe ewig in seiner Schuld denn ich habe nicht nur sein Leben zerstört, sondern auch Jennys und das von Jennys Pferd. Und wenn ich diese Chance, es wenigstens bei Stern wieder gut zu machen, jetzt nicht nutze, dann weiß ich nicht, ob ich jemals wieder frei atmen kann und ob ich je wieder glücklich sein werde. Gordon, bitte, gib Evan und mir wenigstens eine Chance es zu versuchen. Ich weiß, es wird schwer und es wird nicht auf Anhieb alles funktionieren, aber ich habe Zeit, Evan hat Zeit und Stern hat sie ganz sicher. Bitte Gordon, es wäre ein Wunsch und ich wünsche ich könnte die Chance von dir bekommen, denn hätte ich je die Chance bekommen Jenny wieder lebendig zu machen, hätte ich sie sofort genutzt. Ich kann nicht leben, wenn ich weiß das Stern, den ich über Alles liebte und der mich so gut kannte wie niemand, scheu und wild in einer Box endet, weil ICH, Gordon, weil ICH einen Fehler begangen habe. Das könnte ich mir nie verzeihen.“
Mir standen Tränen in den Augen, doch ich hielt sie zurück. Gordon legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte, was mir zu verstehen gab das er einverstanden war. Gerade drehte ich mich herum um zu Evan zu laufen, da rief er mir hinterher:
„Sprich das mit deiner Mutter ab.“
Ich lächelte und nickte. Meine Mutter wusste das ich hier war, ich hatte mit ihr telefoniert und sie hatte eingewilligt das ich ein paar Tage hierblieb, ich hatte durch den Busunfall eine Woche Schulfrei und danach waren schon Sommerferien, die mir und Evan sehr gelegen kamen. Mit Evan hatte ich die beste Nacht meines Lebens erlebt und ich hatte starke Gefühle für ihn und er für mich. Was daraus wird, wusste ich nicht, aber ich hoffte, es werde auf jeden Fall gut.
„Und?“, fragte Evan nachdem ich ihn grinsend auf die Wange geküsst hatte.
„Und?“, fragte ich zurück.
„Na, was hat Gordon gesagt? Na sag schon!“
Mein Grinsen verriet die Antwort und er küsste mich auf den Mund. Er roch nach Heu und ich mochte diesen Duft.
„Na also, super, lass uns morgen anfangen“, sagte er und ging in den Stall um weiter zu arbeiten.
Er faszinierte mich auf jeder Ebene und jede meiner Fasern war angetan von ihm. Es wirkte Alles anziehend auf mich. Wie er sich bewegte, wie er roch, wie er redete, seine Gestik und Mimik, sein klares Lächeln das zwischen Stärke und Unsicherheit balancierte und die wundervollen Augen. Ich war aufgeregt und unsicher, ich war gespannt ob Stern jemals wieder der Alte werden würde. Ich schwor mir, diesen Kampf niemals aufzugeben und meine Krieger waren stark, voll Energie und Tatendrang. Ich hatte diese Vision, wie früher durch die Wälder zu reiten, mit Evan zusammen, auch, wenn es nie wieder so wird wie es mit Jenny und Mandy war, wollte ich doch immer ihnen Gedenken, denn wir waren einmal das beste Team gewesen. Ich war mir sicher es sei das Beste Mandy in Ruhe zu lassen, denn sie konnte frei entscheiden ob sie mit mir Etwas zu tun haben wollte oder nicht, und anscheinend hatte sie neue Freund gefunden. Wie sie damit klar kam, ich weiß es nicht. In diesem Jahr nach dem schrecklichen Unfall ging es jedenfalls mir schlecht. Die erste Zeit aß ich nicht, hungerte zehn Kilo herunter und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer. Jede Nacht raubten mir Schuldgefühle und Albträume, auch Ängste meinen Schlaf und über Tage kam ich nicht wirklich zu mir, war geblendet von mir selbst und den Geschehnissen. Eine starke Einsamkeit befiel mich, ich war so unendlich allein mit meinen Gedanken und dieser Schuld die mich auch immer noch bedrückte. Tage voll Schmerz und voll von schmerzlichen Erkenntnissen hatte ich hinter mir, so viele Tränen voll Kummer und Leid, voll Hilflosigkeit und Verzweiflung. Ich hatte jedoch aus dieser Ganzen schweren Zeit so viel herausgenommen, was gut für mich gewesen ist und ich war immerhin stark genug um hier her zu Stern gekommen zu sein und ich habe mich getraut und bin hier auch noch willkommen und das machte mich über alles glücklich. Ich atme ein, ich atme aus. Ich bin. Einfach mal nur sein. Ich streckte die Arme von mir. Wollte die weite, die Ferne des Moments spüren, ich spürte das Leben in all meinen Zellen, das Blut zirkulierte in Adern und Venen.  
Als ich am Abend in meinem Bett lag, war ich glücklich. Ich meine, dass mit Evan und mir, ich fühlte, es war besonders. Und nun durfte ich wieder mit Stern arbeiten. Mama hatte es unkommentiert gelassen, aber das war mir egal. Ich brauchte es. Für mich. Mein Handy vibrierte. Evan. Mein Herz machte einen kleinen Hopser. Schmetterlinge verbreiteten sich in mir.
Morgen früh auf dem Hof, okay?
Schlaf gut, du bist mir wichtig. Evan.

Ich freute mich riesig. Schnell tippte ich, es sei okay und dass Evan mir auch wichtig war. Ich begann Gefühle für ihn zu entwickeln. Aber nun musste ich schlafen. Denn Morgen würde ein anstrengender Tag werden.



Fortsetzung folgt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen