Jahr eins nach
Dir.
Kapitel 1.
Die Nacht war schon immer meine liebste Zeit. Doch hätte ich nie
zu träumen gewagt, dass ich einmal in einer kalten, klaren Sommernacht auf
einer weiten Weide stehen und in den Himmel blicken würde. Jeder Stern, so ein Wunder
für sich. Ich mochte Sterne seit meiner Kindheit. Sie hatten etwas magisches,
zogen mich an. Nun bist du ein Stern. Mein Stern.
Ich hatte das Bild im April gemacht- also, bevor alles passiert war-
und betrachtete es nachdenklich. Wie stark ich aussah. Hohe Wangenknochen,
braune, große Augen, und meine langen Wimpern, die ich besonders mochte. Ich lachte. Einen Zustand, den ich nun, fast
ein Jahr, nachdem es passiert ist, kaum noch wahrnehmen konnte. Ich legte das
Bild zur Seite, unter mein Kopfkissen, dorthin, wo es seit einem Jahr lag. Es
hatte sich so viel verändert. Vor allem ICH hatte mich verändert. Ich bin
anders geworden. Vorsichtiger. Ich erinnere mich genau an Alles. Es spielt sich
immer wieder in meinem inneren Auge ab. Das Bild, welches ich gerade zur Seite
gelegt hatte, zeigte mich und meine Schwester. Wir bestritten ein Spring-
Turnier, Reiten. Wir waren mittendrin. Und wir wirkten beide glücklich, Jede
auf eine andere Weise. Wir waren so verschieden, dass wir uns schon manchmal
fremd wurden. Ich hatte eine ältere Schwester, Tessa. Sie war sehr still, wenn
sie mal etwas sagte, schenkten ihr Alle Aufmerksamkeit und was sie sagte,
behielt mal in Erinnerung. Sie war immer der still vor sich hin leidende Typ
gewesen. Ich habe sie so manche Male in ihrem Zimmer weinen gehört, doch sagte
sie nie etwas darüber. Sie schwieg, bis man meinte, die ganze Welt schweige.
Sie war 21, arbeitete als Köchin in einem Restaurant am anderen Ende der Stadt.
Nach außen hin wirkte unsere Familie perfekt. Doch der Schein trübte- wie so
oft es der Fall war. Und dann war ich ja noch da, Louise, die Unscheinbare, Liebe.
Genau genommen war ich 16, also so jung auch nicht. Ich war weder aufdringlich
und laut noch verschwiegen und nachdenklich. Ich war halt immer ich. Manchmal
so, manchmal eben anders. Ich versuchte einfach niemandem im Weg zu stehen,
nahm Rücksicht wo ich nur konnte. Wir waren wir, doch Keine glich der Anderen.
Wir waren einfach wir.
Ich machte mich auf den Weg zur Schule, es war die zweite Woche nach
den Osterferien. Montage mochte ich nie, sie waren eben der Beginn einer
Schulwoche. Ich traf mich nicht mehr- wie ich es vergangenes Jahr, und die
Jahre davor getan hatte- mit meiner ehemals besten Freundin Mandy vor
Schulbeginn. Also ging ich allein über den Schulhof, erreicht den Haupteingang.
Mandy und ich waren Jahre lang beste Freundinnen gewesen, waren durch dick und
dünn gegangen, hatten uns alles erzählt und immer zusammengehalten. Doch seit
jenem Tag im April hatten wir uns auseinander gelebt. Ich war anders geworden
und sie auch. Ich setzte mich auf meinen Platz und lies die ersten zwei Stunden
Deutschunterricht über mich ergehen. Ich weiß noch, dass ich zwischendurch dem
Unterricht folgen konnte. In der Pause setzte ich mich, wie immer, auf meine
Bank. Na ja, eigentlich war es nicht meine Bank, nur war es eben die, auf der ich
immer saß, also sozusagen meine. Ich sah diesen Menschen zu, wie sie alle über
so belanglose Dinge redeten. Dinge, die oberflächlich und uninteressant waren.
Dinge, die ich nicht verstehen konnte. Es gab doch so Vieles, was wichtiger und
vorrangig gewesen wäre- aber das interessierte sie einfach nicht. Meine Welt
war dies schon lange nicht mehr. Ich hatte mich anders entschieden. Ich war
nicht Louise, nicht die Louise, wie alle sie haben wollten, ich war anders. Ich
war ich und nichts Verstelltes, Anderes. Denn was ich von jenem Tag verfolgte,
mein Ziel, war zu meinem ganzen Lebensinhalt geworden. Und ich sollte noch
herausfinden, dass es mehr als das wurde. Es wurde zu meinem Leben.
Kapitel 2
Als ich zu Hause ankam, stand das Essen bereits auf dem Tisch. Es roch
nach Gemüse und dazu gab es Fleisch, wie jeden Montag. Mein Vater wuselte
irgendwo im Haus herum, während er irgendetwas Unverständliches vor sich hin
fluchte. „Louise, da bist du ja. Wie war der erste Schultag nach den Ferien?
Setzt dich an den Tisch, es gibt gleich essen“, sagte meine Mutter und musterte
mich erneut. Als zehn Minuten später alle am Tisch saßen, also meine Mutter,
mein Vater, Tessa und ich, fragte sie erneut: „Also, wie war dein Tag, Louise?“
„Ganz okay, wie immer halt. Ich habe Hausaufgaben zu machen und nächste
Woche schreiben wir einen Test in Mathe.“
„Oh, okay. Dann musst du noch dafür lernen.“
Das weitere Gespräch verlief ähnlich, nur fragte sie Tessa, wie ihr Tag
gewesen sei. Tessa berichtete, wie immer, nichts. Ihr Schweigen verriet sowohl
nichts Gutes, als auch nichts Schlechtes. Es war neutral.
Als alle fertig gegessen hatten, stand ich auf und ging in mein Zimmer.
Ich fing an Hausaufgaben zu machen. Doch nicht lange konnte ich mich darauf
konzentrieren. Seit einigen Tagen war es kaum auszuhalten, warum kann ich nicht
sagen. Die Gedanken kreisten um das Thema, das eigentlich auch das wichtigste
in meinem Leben war. Tiere. Ich zog meine Reithose an und schlich mich aus dem
Haus, hinterließ eine kurze Nachricht, dass ich bis zum Abendessen wieder da
sei und fuhr los. Als ich die Bushaltestelle erreicht hatte, stellte ich mein
Fahrrad schnell ab, befestigte ein Schloss in den Speichen und an einer Stange,
bevor der Bus kam. Als er endlich vor mir stand, zögerte ich kurz, ob ich
wirklich einsteigen sollte. Würde Mama sich wieder zu große Sorgen machen? Und
was, wenn ich dort schon längst nicht mehr willkommen war? Oder noch schlimmer-
Was, wenn Stern, also das Pony, um das ich mich lange Zeit gekümmert und
geritten hatte, schon jemanden Neues hatte? Was wenn er mich nicht mehr
erkannte, oder…“Was?!“ Ich wurde aus
meinen Gedanken gerissen, als der Busfahrer verärgert fragte, ob ich nun
einsteigen wollte oder doch nicht. Still stieg ich ein, zeigte meine Fahrkarte
und setzte mich an den nächstbesten freien Platz. Ich war immer noch in
Gedanken versunken, als ich bemerkte, dass ich an der nächsten Haltestelle
aussteigen musste. Als der Bus zum stehen kam, stand ich auf und stieg aus- als
Einzige. Der Bus fuhr und da stand ich nun. Unsicher, ob ich weiter gehen
sollte. Sollte ich es? Oder etwa nicht? Es war bereits ein Jahr her, dass ich
hier gewesen war. Sie hatten mich sicher schon vergessen. Oder? Würde er mich
erkennen? Und die Kühe, die ich so liebte, würden sie sich erinnern können? Für
sie wäre ich sicher nur Irgendjemand. Wie wäre es wohl, nach einer Ewigkeit
dort hin wiederzukommen? Sollte ich nun weitergehen? Sollte ich?
Inzwischen saß ich beim Abendessen. Meine Mutter hatte nicht gefragt wo
ich gewesen war, jetzt jedoch tat sie das.
„Wo warst du, Louise?“
„Ich war nur draußen und bin durch die Gegend gegangen und so. “
„Und in Wirklichkeit?“
„..bin ich mit dem Bus gefahren.
Ich wollte..“
Ich betrachtete den Blick meiner Mutter. Sie sah überrascht aus, daher fügte
ich so schnell es ging hinzu:
„Aber ich bin doch nicht hingegangen. Ich bin zurück gefahren.“
Meine Mutter sagte nichts mehr weiter. Wie immer. In unserer Familie,
die nach außen hin perfekt schien, wurde vieles einfach tot geschwiegen. So wie
dieses Thema. Seit einem Jahr war ich nicht dort gewesen. Ich wusste nicht,
wieso ich zurück gefahren war. Ich hatte es noch nicht für richtig empfunden
wieder dort hinzugehen. Ich fühlte mich noch nicht bereit. Wollte noch warten,
es musste Zeit vergehen, vielleicht noch ein Jahr, wer weiß?
Dennoch wirkte meine Mutter nun nicht mehr glücklich, kurz angebunden,
anders als vor zehn Minuten. Vielleicht hätte ich sie anlügen sollen, ihr sagen
sollen, ich war bei einer (nicht vorhandenen) Freundin oder spazieren gewesen.
Aber das habe ich nicht getan, wieso wusste ich nicht. Aber es war
wahrscheinlich trotzdem besser so. Ich stocherte in meinem Salat herum, bis
mein Vater mich darauf aufmerksam machte. Er hatte von dem vorherigen Gespräch
nichts mitbekommen und daher wusste er auch nicht, was die Stille, bis auf die
meiner Schwester, nun bedeutete. Das war auch besser so. Da ich gerade keine Ahnung
hatte, was ich sagen sollte, fing ich
einfach an mit meinem Vater über das Wetter zu reden.
„Ist ein schöner Tag heute, nicht wahr?“
„Ja, sicher. Warst du denn überhaupt einmal draußen? Du könntest dich
ruhig mit dem Vorgarten beschäftigen. Das Unkraut schreit danach, endlich
beseitigt zu werden und über ein bisschen Wasser würden sich die Rosen auch
freuen.“
„Mal sehen. Ich steh nicht so auf Garten und Beete und Blumen und
sowas. Weißt du doch. Ich hoffe, das Wetter hält sich noch eine ganze Zeit.“
Meine Mutter beteiligte sich nicht am Gespräch, was ja eigentlich auch
keins gewesen war. Sie sah nicht mal zu uns auf, starrte nur still auf ihren
Teller. Alles was ich wusste, war, dass sie sich den Kopf zerbrach, ob ich wohl
noch einmal hinfahren würde. Zu ihm. Zu Stern. Es war die schwierigste Zeit
meines Lebens gewesen, ohne ihn, ein Jahr lang voll Kummer und Schmerz. Aber
ich hatte den Anblick dieses Pferdes nicht mehr ertragen können, nach jenem Tag
im April vor einem Jahr.
„Also, was ist nun?“, fragte mein Vater leicht gereizt. Ich hatte gar
nicht gemerkt, dass er weiter gesprochen hatte.
„Was ist?“
„Ich fragte, junge Dame, ob du heute den Abwasch machen könntest? Deine
Schwester ist heute mit ein paar Freundinnen verabredet und deine Mutter und
ich werden ins Kino gehen.“
„Ach so, den Abwasch, ja, klar. Mache ich.“
Damit stand mein Vater auf, ebenso tat es Tessa. Meine Mutter blieb sitzen,
aber auch sie stand bald auf. Tessa verschwand im Badezimmer und mein Vater und meine Mutter
machten sich fertig fürs Kino. Ich fing an die Spülmaschine auszuräumen, die fertigen
Geschirrgegenstände in die Schränke zu räumen. Dann stapelte ich Gläser, Teller
und Besteck und räumte es ebenfalls wieder in die Spülmaschine ein, schaltete
sie an. Wischte den Tisch ab und ich stellte die Stühle an den Tisch. Das wäre
erledigt. Meine Eltern und Tessa verließen das Haus gleichzeitig. Nun war ich
also alleine. Stille machte sich sehr schnell im Haus breit. Die Gedanken
kreisten nur so, schrien mich an. War es richtig gewesen, heute dorthin zu
fahren und wieder zurück zu fahren, ohne bei ihm gewesen zu sein? Hätte ich den
Mut haben sollen? Für Stern? Für mich? War es an der Zeit gewesen, wieder mutig
zu sein und vorauszublicken? Sollte ich etwa…? Doch bevor ich diesen Gedanken
zu Ende denken konnte, hatte ich mich schon innerlich entschieden. Ich zog mir
rasend schnell meine Reithose an und fuhr mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle,
stellte das Fahrrad ab und bekam noch grade so den halb sechs Uhr Bus. Ich
starrte aus dem großen Fenster des Busses. Begriff noch gar nicht wirklich, was
genau ich da vorhatte. Seit einem Jahr war ich nicht mehr da gewesen. Wie
stellte ich mir das nur vor, auf einmal wieder da zu stehen und zu sagen:
Hallo, hier bin ich wieder?
Der Bus hielt, ich stieg aus. Es war dieselbe Situation wie vor etwa
fünf Stunden. Ich ging entschlossen los. Zögerte noch kurz, ging aber weiter.
Es würde fünf Minuten bis zur Weide dauern, die genau gegenüber vom Haus lag.
Zeit genug, um es sich anders zu überlegen. Zeit genug, um sich umzudrehen und
zurückzufahren. Zeit genug, um aufzugeben. Ich musste nicht stark sein. Ich
musste gar nichts. Aber mit jedem Schritt merkte ich, dass ich wollte. Wollte
zu ihm, er fehlte mir, jede Sekunde hatte es mir vergangenen Jahres schmerzlich
deutlich gemacht. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, konzentrierte mich auf
meinen Atem. Sollte ich es wirklich tun?
Drei Minuten später stand ich an der Weide. An seiner Weide. Da standen sie beisammen. Alle Pferde, die ich Monate
lang mehrmals die Woche sah und die mir unwahrscheinlich viel bedeutet hatten-
und das taten sie trotz allem immer noch. Ich zählte sechs Pferde- von acht.
Klar, Bonita, die schöne weiße stand im Stall, wie immer, denn sie hatte eine
Hufkrankheit und musste drinnen bleiben. Aber ich vermisste noch jemanden auf
dieser Weide. Er fehlte. Stern war
nicht zu sehen. Ich wusste nicht, wieso ich in die Knie ging, aber in diesem
Moment brach eine Welt für mich zusammen. Wo ist er? Haben sie ihn etwa
verkauft? Lebt er noch? Geht es ihm gut?
Wollte Mama daher nicht, dass ich hierher kam? Ich spürte die Verzweiflung aufkommen. Dieser Stich in meinem Herz war unerträglich,
machte mich schwach. Was jetzt? Ich
ging weiter, kletterte zwischen dem Zaun her, auf die Weide. Ich wollte mutig
sein, wollte es so sehr. Sie kamen auf mich zu, neugierig, wer ihre Weide
betrat. Die Tränen liefen nur so aus meinen Augen, als mich als erstes Enrico
erreichte, ich ihn umarmte. Es tat so gut, sein Fell zu spüren, seine Wärme.
Und ich war mir sicher, sie würden mich noch erkennen. Ich streichelte ihn
weiter, während ich mich dem nächsten Pferd zuwendete. Urona kam zu mir,
vorsichtig, bedacht, aber immerhin kam sie. Sie war Sterns Schwester, glich ihm
sehr aber nicht ganz. Ich streichelte sie ausgiebig und begrüßte auch die
anderen: Nero und Ginat, die zwei großen Kaltblüter. Dann Mette, die eigentlich
Nette hieß und Enricos Schwester war. Sie sahen sich auch sehr ähnlich, beide Schwarz
und auch eine schwarze Mähne, unterschieden sich in ein paar Einzelheiten
jedoch deutlich. Dann Appanatschi, ein Pferd, dass schwarz- weiß war, einen
eigenen Willen, aber liebenswert wie alle anderen Ponys und Pferde auch. Sie
umgaben mich und das erste Mal nach Monaten fühlte ich mich geborgen, sicher,
zu Hause. Die Tränen liefen nur so, bis ich dachte ich hätte keine Tränen mehr.
Tränen der Erleichterung, um den Schmerz erneut zu spüren. Aber es wirkte
befreiend, eine Last die ich mit mir herum getragen hatte wurde leichter. Ich
kuschelte mich an Enricos Hals, er verweilte. Dann beschäftigte er sich wieder
damit, Gras vom Boden zu zupfen und ließ mich außer Acht. Ich war völlig
schwach und fertig, fühlte mich dennoch so erleichtert.
„Hallo, was machst du da?“
Zu Tode erschrocken fuhr ich herum. Mein Herz blieb stehen, mein Atem
stockte. Völlig verheult stand ich vor diesem Jungen, den ich nicht kannte,
blickte ihn ungläubig an.
„Hi. Entschuldige, ich wollte nicht stören. Nur eben, ach ich geh wieder, ähm, nochmal tut mir
leid.“ Sagte er selbst verwirrt. Er drehte sich um, ging einige Schritte, als
ich es mir anders überlegte.
„Hallo“, rief ich ihm hinterher und ging ihm nach. Er blieb stehen, musterte
mich, mein verheultes Gesicht musste schrecklich erniedrigend aussehen.
„Hey. Ich bin Louise und du?“
„ Evan. Freut mich. Kann ich dir helfen?“
„Ja vielleicht, danke, kannst du mir sagen wo Stern ist? Das Pferd?“
„Stern? Ja, natürlich. Wieso interessierst du dich für ihn? Er ist
hinten im Stall.“
„Ich kenne ihn, ich habe ihn länger, ähm, ich kenne ihn halt.“
Evan starrte mich an. Als er bemerkte, dass es etwas zu auffällig war,
schaute er weg. Er sah gut aus, keine Frage, aber ich musste zuerst zu ihm. Zu Stern, in den Stall. Ich winkte,
lächelte, wischte die Tränen aus meinem Gesicht und ging Richtung Hof.
„Louise? Warte!“
Ich blieb stehen, blickte zurück.
„Ist alles okay mit dir? Du weinst. Ich, äh, brauchst du Hilfe?“
Ich schüttelte den Kopf, meine Lippen formten ein leises „Danke“ und
ich ging weiter. Ich erblickte zuerst den Kuhstall. Dann das Haus von der
Familie, denen dieser Hof, so auch die Pferde, gehörten. Dann den Stall. Von
weitem schon erblickte ich die zwei Pferde die dort standen. Ich ging um den
Stall herum, nun stand ich vor ihnen. Und da stand er. So etwas Grausames hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen.
Ich war schockiert, taumelte einige Schritte zurück. Was ich sah, berührte mich
zu tiefst. Erneut traten Tränen in meine Augen.
Stern blickte erst irritiert, dann panisch zu mir. Er hastete ein paar
Meter rückwärts, ehe er anfing wie verrückt durch seine Box zu springen, völlig
außer sich, verwirrt. Ich ging ein paar Meter auf ihn zu, er drückte sich mit
aller Gewalt an die hintere Wand seiner Box. Diesen Ausdruck in seinen Augen
werde ich nie wieder vergessen. Hilflos stand er da, den Kopf hoch und die
Augen weit aufgerissen, schnaubte vor sich hin. Als ich die Stangen seiner Box
berührte, fing er erneut an, er trat aus, wieherte laut, sprang von links nach
rechts, ehe er stolperte, stürzte und einen Moment am Boden lag. Ich ging ein
Stück zurück, er stand wieder auf und blickte völlig fertig, ängstlich in meine
Richtung. Sein Kopf war gesenkt, er atmete schwer, so, als wäre er gerade von
etwas wahnsinnig Schlimmen verfolgt worden. Ich atme tief durch. Das war es also, wieso ich nicht wieder
hier her kommen sollte. Misstrauende Blicke warf er mir zu, ehe er sich wieder
in die hintere Ecke seiner Box verzog. Sobald ich mich bewegte, und sei es nur ein
Haar, dass im Winde wehte, blickte er wie erstarrt zu mir, lief unruhig in
seiner Box umher und gelegentlich trat er um sich, sprang in die Luft. Bonita
schien sein Verhalten nicht zu stören. Es schien, sie kenne sein Verhalten gut
genug, um sich davon nicht einschüchtern, noch nicht mal stören zu lassen. Sie
fraß gemütlich und ruhig ihr Heu weiter, blickte das ein oder andere Mal zu mir
auf, wandte sich aber immer schnell ihrem Futter zu, so, als ob es ihr jeden
Moment abhandenkommen könnte. Sie waren in zwei getrennten Boxen. Kein Wunder, dachte ich. Ich war immer
noch wie elektrisiert, als ich plötzlich bemerkte, dass jemand neben mir Platz
genommen hatte. Evan blickte mich an. Jetzt bemerkte ich seine Augen, die blau
und klar in meine sahen. Er war schmal und groß, ein langes Gesicht mit feinen
Zügen.
„Hey.“
„Hey.“
Ich beachtete ihn nicht weiter, sah mir dieses verstörte, wahnsinnig
verängstigte Pferd an, voller Kummer und Schmerz, so ein hilfloses Wesen. Was hatte ich nur getan? Ich stieß einen Seufzer aus, aufs Neue begann
er wie wild durch seine Box zu stürmen. Mist,
dachte ich, ehe ich realisierte, dass mein Handy klingelte. Benommen ging ich
dran.
„Hallo?“
Meine Mutter meldete sich.
„Louise? Wo bist du? Tessa hat angerufen, das du nicht zu Hause warst,
als sie zurück kam und sie nicht wisse wo du bist. Wo im Himmel steckst du?“
„Ich, ähm, na ja, also, Mama, ich bin bei Stern.“
Ein seufzen am anderen Ende der Leitung. Dann eine sich endlose
hinziehende Pause.
„Louise, hör mal. Ich habe dir doch gesagt du sollst nicht ohne mein
Wissen dorthin gehen. Ich möchte, dass du sofort nach Hause kommst und wir
reden dann noch einmal über die Sache. Aber ich möchte einen beruhigten Abend
mit deinem Vater im Kino haben. Der Film fängt in zehn Minuten an und ich
möchte ihn nicht verpassen. Einverstanden?“
Ehe ich überlegen konnte, was ich tat, drückte ich die rote Taste
meines Handys. Aufgelegt. Es folgten ungefähr fünf weitere Anrufe und vier SMS.
Aber das war gerade mein kleinstes Problem. Denn das, was mich beschäftigte,
war nicht meine sich Sorgen machende Mutter. Stern. Wie er dort wie ein
gehetztes Tier durch die Box jagte, völlig fertig und am Ende seiner Kräfte.
„Schlimm, oder?“, fragte Evan mich nach einer ganzen Weile.
„Mehr als das.“
„Ich mache seit fünf Monaten hier eine Lehre. Und ich habe mir dieses
Pferd stundenlang, wenn ich nichts zu tun hatte, angesehen. Und werde nicht
schlau draus, was mit diesem Tier los ist, und warum es überhaupt so drauf
ist.“
„Ich schon“.
Eine Pause entstand in der Schweigen die Stille beherrschte. Dass er
nicht nachfragte, fand ich stark. Ich saß dort, die Zeit verstrich und
plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter.
„Mach dir nichts draus“, sagte Evan schließlich und ging, ohne weiter etwas zu
sagen. Ich bemerkte wieder Stern, der unruhig in seiner Box zum x-ten Mal
herumlief. Vor einem Jahr war das einmal der schönste Wallach gewesen, den ich
kannte. Jetzt erinnerte er mich eher an ein wild gewordenes Ungeheuer. Ich
stand auf, trat an die Stangen seiner Box heran, er sah mich an, ließ mich
keine Sekunde aus den Augen.
„Louise?“
Verwirrt drehte ich mich um. Vor mir stand Gordon. Gordon! Der Gordon!
Ich traute meine Augen nicht, fiel ihm in die Arme, war glücklich ihn heil und
wohl auf wieder zu sehen.
„Louise! Du bist es!“
„Gordon!“
„Komm, wir gehen rein, zu Flora.“
Wir gingen. Ich sah nicht mehr zurück zu Stern, wusste aber, er sah mir
nach. Ich wollte nicht mehr wirklich an ihn denken. Ich begrüßte Gordons Frau
Flora. Wir saßen noch eine ganze Weile am Tisch und redeten, doch keiner sagte
einen Ton über das vergangene. Ich trank meinen Tee aus und ich versprach am nächsten Tag noch einmal
wieder zu kommen, ich musste nach Hause, es war spät.
Ich saß im Bus und wusste nicht so wirklich,
was ich denken sollte. Ich schaute aus
dem Fenster, die Nacht war eingebrochen, es war dunkel. Als ich an meinem Ziel
an kam stieg ich aus, nahm mein Fahrrad und ging durchs Dunkle nach Hause.
Kapitel 3
Zu Hause angekommen schloss ich leise die Tür auf. Die Digital- Uhr im
Flur zeigte 10:21 Uhr. Es war spät geworden. Meine Eltern waren noch nicht
hier, das Auto stand nicht in der Auffahrt. Ich ging schweigend in mein Zimmer,
Tessa war in ihrem Zimmer, denn ich hörte ihre Musik. Ich legte mich ins Bett
und schlief ein, tief und fest. Irgendwann, so glaube ich, kam Mama noch einmal
nach mir sehen, aber ich schlief weiter.
Am nächsten Morgen wollte ich gar nicht wach werden. Als der Wecker
mich aus dem Bett zwang, fielen meine Augen immer wieder zu, ich war schlicht
nicht in Form für Schule. Also sagte ich Mama, ich sei krank und blieb im Bett.
Meine Mutter verlor kein Wort mehr darüber, dass ich bei Stern gewesen
war. Kein einziges. Weil immer alles tot geschwiegen wurde.
Als Meine Mutter um halb 11 das Haus verließ und zur Arbeit fuhr, stand
ich auf. Sie arbeitete als Sekretärin einer Firma. Mein Vater war von Beruf
Dachdecker, er war selten zu Hause.
Ich holte mir was zum Essen aus dem Kühlschrank, dann setzte ich mich
vor den Fernseher und schaltete von Programm zu Programm. Als ich gerade
angefangen hatte, „Mitten im Leben“ zu schauen, fiel es mir wie ein Blitz ein:
Ich hatte doch Gordon versprochen, noch einmal bei ihm vorbei zu sehen. Heute.
Jetzt, wo Mama nicht da war. Sollte sie nämlich gegen vier Uhr wieder zu Hause
sein, und rausfinden, dass ich bei Stern bin, würde sie sicher durchdrehen.
Aufgeregt und gehetzt sprang ich auf, lief ins Badezimmer. Zähneputzen, Gesicht
waschen, Haare kämmen, schminken. Fertig. Ich zog mir meine Stallsachen an und
rannte zum Bus, den ich so grade noch bekam. Auf der Fahrt tippte ich
regelmäßig aufgeregt mit dem Finger gegen die Fensterscheibe, bis schließlich
der Busfahrer meinte, ich solle das lassen. Der Busfahrer wirkte sehr zierlich,
älterer Mann, ich schätze Mitte 60. Normal waren unsere Busfahrer immer sehr
kräftig und einmal fuhr sogar eine Frau. Aber dieser Mann, graue Haare, Hemd
und Jeans, dazu braune Schuhe und eine Kappe, der fiel mir irgendwie auf,
wieso, keine Ahnung. Als wir ankamen, stieg ich aus, und ich erreichte den Hof-
nass vom Regen- nach 2 Minuten, da ich rannte wie eine gehetzte Kuh (Ja, Kühe
können gehetzt und schnell sein). Ich ging mit gesenktem Kopf die Treppen zum
Wohnhaus herauf, klopfte kurz und trat schließlich ins Haus ein. Ich zog meine
Schuhe aus, und ging in die Küche, Gordon und Flora saßen beim Frühstück.
„Hallo, Louise! Schön, dass du gekommen bist“, sagte Flora mit einer so mir vertrauten
Stimme, dass es sich fast wie eine
Heimkehr anfühlte. Entschlossen nahm sie mich in die Arme und für einen
Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen. „Wie geht´s Dir, alles in
Ordnung?“, fragte sie und setzte sich wieder hin, ich tat es ihr nach. „Ja,
ähm, Ja, soweit ist alles Okay.“ Wir redeten noch eine ganze Weile, Gordon
musste jedoch in den Stall.
„Also, Louise, nun musst du mir allerdings verraten, was dich hierher
getrieben hat. Ich bin mir sehr sicher, dass das sehr zum Missfallen deiner
Mutter ist, habe ich Recht?“, fragte Flora nach einer kurzen Tee-Pause.
„Ja, du hast Recht. Und sie darf es unter keinen Umständen erfahren,
versprichst du das?“
„Ja. Aber ich tu das nicht gerne, das weißt du. Das müsst ihr unter
euch klären.“
„Danke, Flora. Ich bin hier, weil ich zu Stern wollte. Aber was ich
gestern gesehen habe, hat mich sehr stark schockiert, ich bin immer noch ganz
benommen. Was ist mit ihm los?“
„Das ist eine gute Frage, mein Kind. Er ist einfach nicht mehr der Selbe
geworden, wie früher, du weißt schon. Anfangs hat er nicht gefressen. Er hat
wahnsinnig abgebaut und wir dachten, er schafft es nicht über den Winter. Als
Evan vor fünf Monaten kam, hat es sich gebessert. Er hat Zeit mit ihm
verbracht, und Gordon hat ihm oft die Möglichkeiten dazu eingeräumt. Er hat
eine kaputte Pferdeseele, und die kann
man nicht einfach mit einem Pflaster wieder zusammenkleben. Das braucht Zeit
und Zuwendung, und ehrlich gesagt braucht es ein kleines Wunder. Ich habe
Zweifel, dass er je wieder der Alte wird.“
„Und das alles ist nur meine Schuld.“, sagte ich und senkte den Kopf.
Ich war schuldig. Ich, nur ich. Flora legte einen Arm um mich: „Nein, du hast
keine Schuld zu tragen.. Mach dir keinen Vorwurf, Liebes.“
„Aber es ist mir passiert und nicht dir und nicht Gordon und nicht
einem anderen Menschen. Ganz allein mir und Stern. Und wegen mir wird er nie
wieder ein lebenswertes Leben haben werden, Jenny wird nie wieder zurück
kommen! Sie wird nie wieder hier sein, Flora! Nie wieder! Stern wird für immer
verängstigt und scheu sein. Oh mein Gott, was habe ich nur getan?“
„Jetzt mach dich in Gottes Namen bitte nicht so verrückt und hör
endlich auf, so einen Mist zu erzählen! Du hast keinerlei Verantwortung zu
tragen. Und jetzt geh am besten in den Stall. Wenn du willst, kannst du zu
Stern gehen, wenn nicht, dann kannst du Gordon im Stall helfen oder sonst
etwas. Ich muss jetzt mal einkaufen fahren und ich hoffe, wir werden uns
demnächst wieder öfter sehen, in Ordnung?“
„Okay. Danke, Flora!“
Wir verließen beide das Haus und ich ging zu Gordon, zu Stern wollte
ich jetzt nicht. Er war gerade dabei, einige Nummern der Kühe aufzuschreiben.
„Hey, was machst du?“, fragte ich ihn.
„Hallo, ich schreibe mir gerade auf, wen ich alles an den Klauen
behandeln muss, magst du mir helfen?“
„Ja, klar, was muss ich tun, Sir?“
„Nicht so frech junge Dame, also, schreib mir mal die Nummern auf die
ich dir zurufe, ich werde durch die Herde gehen und mir mal die Klauen kurz
ansehen.“
„Okay“, sagte ich und nahm Stift und Papier entgegen.
„!70, 356, 280, 35, 19, 92, 134“
Ich schrieb mit und war innerlich glücklich. Irgendwie war da ein Stück
Vertrautheit. Das gefiel mir.
„Hast du das aufgeschrieben?“, rief Gordon, ehe er auf mich zukam.
„Japs, habe ich“, antwortete ich
lächelnd.
Wir suchten uns die Kühe heraus, die ich aufgeschrieben hatte und
Gordon behandelte sie nach der Reihe an den Klauen. Manche, weil sie lahm
gingen oder irgendetwas anderes hatten, andere einfach vorsorglich. Es dauerte
fast eine Stunde, und dann gingen wir in den Kälberstall und fingen an die
Boxen mit Stroh zu streuen.
„Und, wie läuft es so zu Hause?“, fragte Gordon nach einiger Zeit.
„Es geht. Du kennst ja Mama. Sie nörgelt viel und so. Aber das ist ja
irgendwie auch normal.“
„Weiß sie, dass du hier bist.“
Ich schwieg, und damit bekam er wohl seine Antwort.
„Louise, ich freue mich sehr, dass du hier bist, aber du weißt, ich
unterstütze das nicht. Das deine Mutter hintergangen wird, verstehst du?“
„Hintergangen?! Ich hintergehe sie nicht. Sie verbietet mir lediglich
Etwas, ohne dass ich nicht leben kann und möchte! Ich habe jetzt ein Jahr lang zu Hause
rumgesessen und vor mich hin vegetiert. Es reicht langsam. Ich will wieder was
vom Leben haben, außer eine Couch und jede Menge Fernsehsender.“
„Du musst das mit deiner Mutter abklären, und jetzt lass uns das Thema
wechseln“
Wir machten die Kälber fertig und gingen dann nach drinnen, um etwas zu
trinken. Inzwischen war Flora wieder da, und sie packte Fotoalben auf den
Tisch. Fotos, die mich und Stern vor einem Jahr zeigten. Meine Laune wurde
ernster und schlechter, von Bild zu Bild. Aber als ich das Bild sah, das wenige
Tage vor jenem Tag im April entstanden war, konnte ich die Tränen nicht mehr
zurück halten. Mandy, Jenny und ich. Die Erinnerungen taten viel zu sehr weh
und ich wünschte, ich wäre niemals hier her gekommen. Ich versuchte, die Tränen
zurück zuhalten. Aber es ging nicht. Sie flossen und flossen und wollten gar
nicht mehr aufhören zu fließen. Flora nahm mich in den Arm und sprach mir gut
zu. Ich versuchte mich zu beruhigen. Aber wie sollte ich mich so beruhigen? Wo
dieses Pferd verstört und völlig fertig dort draußen in seiner Box steht und
unglücklich ist, und was nur wegen mir? Wo Jenny tot war?
Wir tranken noch zusammen Tee und dann verabschiedete ich mich.
Es sollte ein
Neuanfang sein, doch den wird es wohl nie geben. Es sollte alles besser machen,
doch das wird es wohl nie tun. Es wird nie wieder wie es einmal war. Und allein
ich bin schuld.
Die Gedanken schossen wild durch meinen Kopf, während ich im Bus nach
Hause saß. Der Busfahrer fuhr wie eine Sau, fiel mir gerade ein, ehe er auch
schon eine Vollbremse machte. Unvorbereitet schlug ich mit dem Kopf nach vorne.
Kapitel 4
Meine Erinnerung setzte wieder ein, als ich mich in einem weißen, sterilen
Krankenhauszimmer befand. Benommen öffnete ich die Augen. Mein Kopf schmerzte
furchtbar und ich wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Ich sah meine
Mutter und meine Schwester. Meine Mutter legte mir einen kalten Waschlappen auf
die Stirn und rief eine Krankenschwester zu mir.
Besorgt sah sie mich an und sagte: „Louise, ein Glück, dass es Dir gut geht!
Mein Schatz, der Busfahrer musste eine starke Bremsung machen und Du bist mit
dem Kopf auf den vorderen Sitz gestoßen“. Ich richtete mich langsam auf und ich
spürte den Schmerz in meinem Kopf. Ich hatte einen Verband angelegt bekommen
und andere Kleidung hatte ich auch an. Dann kamen langsam alle Erinnerungen
zurück. Mein Kopf hämmerte noch immer, aber ich konnte mich an die Busfahrt
erinnern. An Stern.
„Ich lasse dich allein“ sagte meine Mutter und verließ das Zimmer.
Ich versuchte mich so gut es ging an Alles zu erinnern, doch mein Kopf
tat zu weh. Gedanken kreisten in meinem Kopf zu wild umher, um sie ordnen zu
können. Ich musste hier weg, musste weg aus diesem fremden Zimmer, weg von dem
was mich erdrückte und hin zu dem, der mir Alles bedeutet hatte. Stern.
Ich saß neben Sterns Box. Es war kalt und ich fror, doch mein Blick war
wie starr auf dieses wilde Wesen gerichtet. Er fesselte mich. Trotz seiner
großen Angst und dieser Hilflosigkeit faszinierte er mich, wie damals. Wie
damals, aber damals waren Jenny und Mandy auch noch da gewesen. Ich sah hoch,
Evan war gekommen.
„Was machst du hier, Louise? Solltest du nicht im Krankenhaus sein?“
Ich sagte nichts. Stattdessen liefen die Tränen nur so, ich konnte sie
nicht mehr zurück halten. Sie rannen und rannen und wollten nie wieder
aufhören, der Schmerz war zu tief eingebrannt und er fesselte mich jede Sekunde
meines Lebens, seit Alles an diesen einem Ereignis auseinander gebrochen war.
Evan setzte sich neben mich und legte seinen Arm um mich, und ich fühlte mich
unglaublich geborgen bei ihm. Ich kannte ihn nicht, dennoch hatte ich das
Gefühl ihn schon lange zu kennen und ihm vertrauen zu können. Ich lehnte meinen
Kopf an seine Schulter und weinte, weinte, ich weinte, bis man meinte, die
ganze Welt weine.
„Erzählst Du mir davon?“, sagte Evan ganz leise, als flüstere er es mir
zu.
„Wovon?“, fragte ich ebenso leise zurück.
„Na von ihm.“
Eine neue Flut von Tränen ergriff mich. Doch Evan hielt mich, er stand
mir zur Seite und gab mir Kraft, und das machte uns zu etwas Besonderem.
„Früher war er das tollste Pferd. Ich liebe Stern über Alles. Ich
ging..“
Tränen voll bitterer Erkenntnis rannen über meine Wangen. Erkenntnis,
dass ich ihn zerstört hatte.
„Ich ging andauernd mit ihm ausreiten, wir hatten eine Menge Spaß und
ja, wir waren ein gutes Team.“
„Was ist passiert, dass er so geworden ist, Louise?“, fragte Evan und
schaute mich mit großen Augen an.
„Ich war mit Mandy und Jenny ausreiten, wir hatten super Laune. Das war
vor ziemlich genau einem Jahr. Ich ritt auf Stern, Mandy auf Enrico und Jenny,
sie ritt auf ihrem eigenen Pferd Ascalon. Wir ritten durch den Wald, über eine
kurvige Straße. Dann entschied ich, einen Hang hochzureiten, er war ziemlich
Steil und verschüttet, ich hätte es besser wissen müssen. Ich ritt also voran,
hinter mir Mandy und Jenny. Wir sangen irgendein lustiges Lied. Mitten im Hang
fing Stern dann auf einmal an zu rutschen. Ich trieb ihn weiter an, doch er
verlor endgültig den Halt. Wir stürzten den Abhang herunter und ich riss Jenny
und Mandy mit. Wir rutschten bis auf die Straße. Als wir gerade auf der Straße
waren, kam ein großer LKW um die Ecke gerast. Er bremste heftig, doch der Abstand
war zu kurz. Ascalon ging vor dem LKW hoch und er fiel mit Jenny zu Boden.
Enrico und Mandy konnten sich vor dem LKW in Sicherheit bringen, doch Stern
ging ebenfalls hoch und wir wurden mit voller Wucht zur Seite geschleudert.
Mandy und Enrico ist nichts passiert, ich hatte einige Rippen gebrochen und ein
Bein, Schleudertrauma und Verstauchungen. Jenny ist dabei ums Leben gekommen
und Ascalon auch. Seit diesem Tag war ich nie wieder hier, bis vor kurzem, und
ich wusste auch nicht dass es Stern so schlecht geht. Ich bin Schuld, Evan. Ich
bin Schuld das Jenny tot ist und Ascalon, und dass dieses einst wundervolle
Pferd jegliches Vertrauen in die Menschen verloren und so verängstigt ist. Ich
bin Schuld Evan, und das raubt mir die Kraft in jedem Atemzug.“
Ich senkte den Kopf. Ich hatte es zum ersten Mal ausgesprochen. Zum
ersten Mal den Gefühlen und den Gedanken Worte gegeben. Zum ersten Mal zum
Ausdruck gebracht, was mit mir los war, obwohl es hätte offensichtlich sein
müssen. Diese ganze Schuld, die mich seit Monaten um den Schlaf brachte und
mich wahnsinnig traurig stimmte, hatte Worte gefunden. Ich hatte Jenny
umgebracht.
Laut weinend brach ich in mir zusammen. Mir fehlte die Luft zum Atmen
und ich zitterte am ganzen Körper. Evan streichelte meinen Kopf, dann nahm er
mich hoch und trug mich zu den Heuballen, zwischen denen er mich schließlich
runter ließ. Er setzte sich hin und ich setzte mich eng an ihn. Diese alte
Vertrautheit die da war, obwohl wir uns nie gesehen hatten und uns fremd waren,
sie löste so viel Wärme in mir auf. In dem Jahr nach Jennys Unfall, das erste
Mal das ich mich lösen konnte. Das ich los lassen konnte und mich aufgefangen
fühlte. Ich hatte das Gefühl, er würde mich halten bis ich wieder alleine
stehen kann und er würde niemals loslassen. Ich kuschelte mich an ihn und Evan
drückte mich fest an sich, während er meinen Kopf behutsam streichelte und mir
neue Energie gab.
„Louise. Es ist mir egal, was damals war. Es ist auch egal, was
irgendwann sein wird. Du bist hier, sei einfach du, denn du bist gut so, wie du
bist, und ich finde dich genauso bezaubernd.“, sagte Evan und küsste mir
lieblich auf die Stirn.
Ich drehte mich zu ihm, küsste ihm ebenfalls auf die Stirn. Seine
Lippen berührten meine Wangen, die Nase, das Kinn und schließlich lagen sie
sanft auf den meinen, und ich spürte das Pulsieren im Körper, das Kribbeln bis
in die kleinste Faser meines Körpers. Langsam bewegte ich meine Lippen und
seine machten es mir nach. Seine Hände streiften vom Kopf über meine Arme bis
zu meinen Händen. Er nahm meine Hände und drückte sie leicht. Er lächelte, ehe
er mich erneut küsste, voll Hingebung und Leidenschaft. Das Kribbeln verlagerte
sich überwiegend in meine Bauchgegend. Glücksgefühle, so würde ich sie nennen.
Seine Hände wanderten weiter, über meinen Bauch und meine Schenkel, die Knie
und die Füße. Wieder herauf, diesmal die Innenseiten meiner Schenkel,
angekommen am Bauch tastete er sich unter meinem T-Shirt weiter, am Rücken bis
zum Nacken. Dann küsste er sanft meinen Nacken und atmete seinen warmen Atem in
mein Shirt. Seine Lippen fanden den Weg zurück zu meinen Lippen und wir küssten
uns weiter. Er öffnete meinen BH und tastete sich über meinen Bauch hoch zu den
kleinen Brüsten, während Evan mit der anderen Hand meinen Gürtel öffnete…
Kapitel 5
„Gordon? Kann ich dich was fragen?“, fragte ich Gordon am nächsten
Morgen.
„Ja, Louise, bitte“, antwortet er und lächelte freundlich.
„Also, ich weiß nicht ob es eine gute Idee ist. Aber ich und Evan..“
„Ach, du und Evan also?“, unterbrach Gordon mich und grinste mich an.
„Gordon! Also, ich und Evan haben überlegt wieder anzufangen, ich
meine, also, mit Stern zu arbeiten.“
Ein Seufzen füllte die endlos lange Pause zwischen unserem Gespräch.
„Louise, ich weiß das war Alles sehr schlimm für dich und für uns war
es das sicher auch, für uns Alle war es das. Und das Stern so verändert ist,
ist auch sehr schwer zu akzeptieren. Der Unfall, dass Jenny ums Leben kam, das
hat dich sehr verändert, nicht ins Negative weißt du, aber, meine Frage ist einfach,
ach was, ich muss es irgendwann fragen:
Louise, kommst du damit klar?“
„Ich komm schon damit klar und ich bin es diesem Tier schuldig Gordon,
ich stehe ewig in seiner Schuld denn ich habe nicht nur sein Leben zerstört,
sondern auch Jennys und das von Jennys Pferd. Und wenn ich diese Chance, es
wenigstens bei Stern wieder gut zu machen, jetzt nicht nutze, dann weiß ich
nicht, ob ich jemals wieder frei atmen kann und ob ich je wieder glücklich sein
werde. Gordon, bitte, gib Evan und mir wenigstens eine Chance es zu versuchen.
Ich weiß, es wird schwer und es wird nicht auf Anhieb alles funktionieren, aber
ich habe Zeit, Evan hat Zeit und Stern hat sie ganz sicher. Bitte Gordon, es
wäre ein Wunsch und ich wünsche ich könnte die Chance von dir bekommen, denn
hätte ich je die Chance bekommen Jenny wieder lebendig zu machen, hätte ich sie
sofort genutzt. Ich kann nicht leben, wenn ich weiß das Stern, den ich über
Alles liebte und der mich so gut kannte wie niemand, scheu und wild in einer
Box endet, weil ICH, Gordon, weil ICH einen Fehler begangen habe. Das könnte
ich mir nie verzeihen.“
Mir standen Tränen in den Augen, doch ich hielt sie zurück. Gordon
legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte, was mir zu verstehen gab das
er einverstanden war. Gerade drehte ich mich herum um zu Evan zu laufen, da
rief er mir hinterher:
„Sprich das mit deiner Mutter ab.“
Ich lächelte und nickte. Meine Mutter wusste das ich hier war, ich
hatte mit ihr telefoniert und sie hatte eingewilligt das ich ein paar Tage
hierblieb, ich hatte durch den Busunfall eine Woche Schulfrei und danach waren
schon Sommerferien, die mir und Evan sehr gelegen kamen. Mit Evan hatte ich die
beste Nacht meines Lebens erlebt und ich hatte starke Gefühle für ihn und er
für mich. Was daraus wird, wusste ich nicht, aber ich hoffte, es werde auf
jeden Fall gut.
„Und?“, fragte Evan nachdem ich ihn grinsend auf die Wange geküsst
hatte.
„Und?“, fragte ich zurück.
„Na, was hat Gordon gesagt? Na sag schon!“
Mein Grinsen verriet die Antwort und er küsste mich auf den Mund. Er
roch nach Heu und ich mochte diesen Duft.
„Na also, super, lass uns morgen anfangen“, sagte er und ging in den
Stall um weiter zu arbeiten.
Er faszinierte mich auf jeder Ebene und jede meiner Fasern war angetan
von ihm. Es wirkte Alles anziehend auf mich. Wie er sich bewegte, wie er roch,
wie er redete, seine Gestik und Mimik, sein klares Lächeln das zwischen Stärke
und Unsicherheit balancierte und die wundervollen Augen. Ich war aufgeregt und
unsicher, ich war gespannt ob Stern jemals wieder der Alte werden würde. Ich
schwor mir, diesen Kampf niemals aufzugeben und meine Krieger waren stark, voll
Energie und Tatendrang. Ich hatte diese Vision, wie früher durch die Wälder zu
reiten, mit Evan zusammen, auch, wenn es nie wieder so wird wie es mit Jenny
und Mandy war, wollte ich doch immer ihnen Gedenken, denn wir waren einmal das
beste Team gewesen. Ich war mir sicher es sei das Beste Mandy in Ruhe zu
lassen, denn sie konnte frei entscheiden ob sie mit mir Etwas zu tun haben
wollte oder nicht, und anscheinend hatte sie neue Freund gefunden. Wie sie
damit klar kam, ich weiß es nicht. In diesem Jahr nach dem schrecklichen Unfall
ging es jedenfalls mir schlecht. Die erste Zeit aß ich nicht, hungerte zehn
Kilo herunter und verbarrikadierte mich in meinem Zimmer. Jede Nacht raubten
mir Schuldgefühle und Albträume, auch Ängste meinen Schlaf und über Tage kam
ich nicht wirklich zu mir, war geblendet von mir selbst und den Geschehnissen. Eine
starke Einsamkeit befiel mich, ich war so unendlich allein mit meinen Gedanken
und dieser Schuld die mich auch immer noch bedrückte. Tage voll Schmerz und
voll von schmerzlichen Erkenntnissen hatte ich hinter mir, so viele Tränen voll
Kummer und Leid, voll Hilflosigkeit und Verzweiflung. Ich hatte jedoch aus dieser
Ganzen schweren Zeit so viel herausgenommen, was gut für mich gewesen ist und
ich war immerhin stark genug um hier her zu Stern gekommen zu sein und ich habe
mich getraut und bin hier auch noch willkommen und das machte mich über alles
glücklich. Ich atme ein, ich atme aus. Ich bin. Einfach mal nur sein. Ich
streckte die Arme von mir. Wollte die weite, die Ferne des Moments spüren, ich
spürte das Leben in all meinen Zellen, das Blut zirkulierte in Adern und Venen.
Als ich am Abend in meinem Bett lag, war ich glücklich. Ich meine, dass
mit Evan und mir, ich fühlte, es war besonders. Und nun durfte ich wieder mit
Stern arbeiten. Mama hatte es unkommentiert gelassen, aber das war mir egal.
Ich brauchte es. Für mich. Mein Handy vibrierte. Evan. Mein Herz machte einen
kleinen Hopser. Schmetterlinge verbreiteten sich in mir.
Morgen früh auf
dem Hof, okay?
Schlaf gut, du bist mir wichtig. Evan.
Ich freute mich riesig. Schnell tippte
ich, es sei okay und dass Evan mir auch wichtig war. Ich begann Gefühle für ihn
zu entwickeln. Aber nun musste ich schlafen. Denn Morgen würde ein anstrengender
Tag werden.
Fortsetzung folgt.